Sunday 23 July 2017

Gedanken übers Außenseitersein und Sexismus

Sabine Scholl schrieb neulich so gut darüber, wie es sich anfühlt, im Literaturbetrieb Außenseiterin zu sein. Ich möchte darauf antworten, meine eigene Geschichte erzählen, auch mit den vielen guten Texten über Sexismus an Schreibschulen im Hinterkopf, besonders die von Martina Hefter und Stefan Mesch. Letzte Woche kam eine Anfrage von einer Zeitung, ein paar Zeilen zum Thema Sexismus im Literaturbetrieb zu schicken. Ich konnte nicht, weil ich mitten in einem Umzug steckte – aber auch weil ich dachte, ein paar Zeilen zu meinen Erfahrungen reichen nicht aus, die Sache ist komplizierter.

Für mein Gefühl bin ich mehrfache Außenseiterin im deutschen Literaturbetrieb. Ich bin nicht in Deutschland aufgewachsen, deutsch ist nicht meine Muttersprache. Ich bin Übersetzerin und keine Autorin oder Kritikerin. Ich bin atheistisch erzogen, in der dritten Generation. Ich bin Mutter, halbzeit-alleinerziehend, auch das in der dritten Generation. Ich habe Freunde, die keine Bücher lesen. Ich bin nicht verheiratet, war es nie, und habe gerade keinen Partner. Was ich auch nicht habe, um an Sabine Scholl anzuknüpfen, ist einen Bildungsbürgerhintergrund.

Ich komme aus London. Dort reden wir noch über Klasse, manchmal vereinfachend; dabei ist das Thema gar nicht so geradlinig. Meine Eltern sind typische Aufsteiger, haben die Klasse gewechselt als die Gesellschaft in den 60ern durchlässiger wurde. Die Mutter bekam mit elf ein Stipendium für begabte Arbeiterkinder, besuchte eine Internatsschule, fühlte sich sieben Jahre lang fehl am Platz. Zu Hause arbeitete ihr Vater als Lastwagenfahrer und die Mutter als Dienstmädchen und Putzfrau. Mit ihrer guten Schulbildung ausgestattet, fing meine Mutter ein Studium an – hörte aber schnell wieder auf, weil sie meinen Vater vermisste. Er hatte die Schule mit sechzehn abgebrochen, landete nach einer Weile dank Vollbeschäftigung auf den Füßen und lernte Tontechniker bei der BBC. Seine Mutter hatte ihre drei Söhne alleine aufgezogen, war Stenotypistin bei der Post, während ihr Exmann in Fabriken arbeitete und in der kommunistischen Partei aktiv war.

So waren meine Eltern nirgendwo ganz zugehörig. Seine Arbeit und ihre Bildung trennten sie von der Arbeiterklasse ab, schenkten ihnen aber nur oberflächliche, prekäre Bürgerlichkeit. Sie kauften sich ein Reihenhaus, lasen sich Wissen an, mein Vater brachte sich selbst Klavierspielen bei, meine Mutter machte Verwaltungsjobs und consciousness-building und studierte dann doch mit vierzig Sozialwissenschaften, nachdem die beiden sich getrennt hatten. Meine Schwester und ich wuchsen mit Büchern auf, aber auch mit Popmusik und Fernsehen. Wir machten Amateurtheater, Pantomimes in der Mehrzweckhalle, fuhren als Scheidungskinder nicht mehr ins Ausland in den Urlaub sondern immer in verregnete englische Kleinstädte. Wir hatten verschiedene Untermieterinnen, wie die Großeltern schon ihr Einkommen aufgebessert hatten. Alles war gut, das Geld reichte meist knapp.

Und dann waren wir dran: meine Schwester und ich studierten beide. Meine Mutter hatte gerade rechtzeitig verhindert, dass wir die ersten Familienmitglieder an der Uni waren. Meine Schwester wurde nicht fertig, ich schon. Sie arbeitet jetzt mit älteren Menschen als eine Art ungelernte Sozialarbeiterin, ist auch alleinerziehend, hat eine Behinderung und kommt damit klar. Alles ist gut, das Geld reicht meist knapp. Bei mir sieht’s ähnlich aus, nur dass ich meine Arbeit liebe und keinen Anspruch auf eine Sozialwohnung habe. Den Bachelorabschluss eingesackt, bin ich bloß schnell weg von der Uni, von England, ab nach Berlin. Ich zog mit einem Gartenbaulehrling zusammen, er hatte eine Einraumwohnung in Friedrichshain, mit Ofenheizung aber immerhin mit eigenem Badezimmer. Nachdem wir uns trennten fiel er durch die Gesellenprüfung durch.

Nach weiteren lebensbereichernden Brüchen begab ich mich nichtsahnend in deutsche Literaturkreisen. Ich finde es hier schwer, Klassenhintergründe einzuschätzen; ich kann die Zeichen immer noch schlecht lesen und die Deutschen reden auch nicht freiwillig darüber. Florian Kessler hatte aber vermutlich recht mit seiner Ärztesöhne-Theorie. Was ich gemerkt habe: man kennt sich mit klassischer Musik aus aber hört textbetonten Indie-Pop. Man trägt keine knalligen Farben. Männer machen Witze, Frauen lachen – aber nicht zu laut. Man reist viel und versteht was von Wein aber trinkt selten über den Durst. Man flirtet nicht, höchstens sehr subtil und am späteren Abend. Oder vielleicht steht man nur nicht auf mich, keine Ahnung. Jedenfalls mache ich einiges falsch und fühle mich oft fremd in der Szene, manchmal wie eine teilnehmende Beobachterin.

Und doch finde ich immer wieder Räume, in denen ich mich wohlfühle. Manchmal sind sie vorübergehend: Buchmessen, der ehemalige Salon von Adler und Söhne, bestimmte Lesungsreihen. Oft liegt es an den Gastgebern, die sich wie zum Beispiel im LCB darum bemühen, dass alle sich wohlfühlen. Das sind Orte, wo ich im pinken Kleid zu roten Schuhen tanzen und Witze reißen kann, wo ich betrunken die letzte Bahn verpassen kann und jemand nimmt mich im Taxi mit, wo ich zu viel von mir erzählen kann, immer schön in der verpönten ersten Person, wo es auch mal knallen darf. Manchmal erschaffe ich diese Räume selbst, in der Form eines Blogs oder einer Veranstaltung. Ich will weiterhin einiges falsch machen.

Und es gibt Leute, viele davon Frauen, die auch keine glatten Lebensläufe haben und die sich gegenseitig unterstützen. Ich erhalte von vielen Frauen im Literaturbetrieb Hilfe und Zuspruch: es sind andere Mütter, Alleinerziehende, Feministinnen, Ausländerinnen, Übersetzerinnen, andere lautlachende, spaßverstehende, talentierte Fettnäpfchentretende. Diese Frauen und Männer sind es, die mich in diesem komischen Betrieb bei der Stange halten. I hope you know who you are.

Denn ja, der deutsche Literaturbetrieb ist immer noch von bürgerlichen weißen Männern dominiert. Es reicht also schon, eine Frau zu sein, um sich hier als Außenseiterin zu empfinden. Der Betrieb ist immer noch ein Ort, wo Frauen nach ihrem Aussehen verurteilt werden und sich vielleicht deswegen selten trauen, Körperlichkeit in ihrem Schreiben zuzulassen. Wo sie sich auch selten trauen, Wut zu zeigen, radikal zu denken, reden und schreiben. Deswegen freue ich mich so sehr, dass ehemalige und jetzige Schreibschulstudierende über die Bedingungen dort klagen. Ich glaube, ich bin nicht die Richtige, um über Sexismus-Erfahrungen im Betrieb zu erzählen, denn ich stecke wie gesagt nicht richtig drin und möchte es auch nicht unbedingt. Ich bin nicht vom Wohlwollen der bürgerlichen weißen Männern abhängig, jedenfalls nicht der deutschen.

Aber ich beobachte vom Rande und wünsche mir, dass Frauen es leichter haben, erfolgreiche Schriftstellerinnen zu werden, damit ich ihre Bücher übersetzen kann. Bücher von Menschen ohne glatten Lebensläufe, wie einige der Autorinnen, die ich übersetzt habe und übersetzen werde: Inka Parei, Annett Gröschner, Christa Wolf, Helene Hegemann, Rusalka Reh, Olga Grjasnowa, Heike Geißler. Und denkt noch an diese anderen geilen Schreibbräute: Katja Lange-Müller, Herta Müller, Julia Franck, Emine Sevgi Özdamar, Judith Hermann, Sharon Dodua Otoo, Antje Rávic Strubel... Ich wünsche mir mehr, noch mehr, ich möchte baden in Büchern von unangepassten Autorinnen.

Passt euch meinetwegen bloß nicht an. Schreibt nicht brav, schreibt mit Pathos oder Wut oder Witz oder Experimentierlust. Macht dasselbe im Leben. Helft euch gegenseitig, heißt andere Frauen willkommen. Seid eure eigene Seilschaft. Macht das Außenseitersein zur Tugend, erklärt euren Literaturbetrieb zur Außenseiterinnenrepublik. Seid geschmacklos und verhaltet euch falsch.